„Sexualität in Zeiten der Corona-Pandemie aus Sicht von Fachkräften der sexuellen Bildung“
Was macht die Corona-Pandemie mit mir, mit meinem beruflichen, professionellen Tun, mit Sexualität und sexueller Bildung?
Das Fachgebiet Medienpsychologie und Medienkonzeption der TU Ilmenau (Prof. Dr. Nicola Döring) hat im April/Mai 2020 zusammen mit dem Institut für Sexualpädagogik (isp) eine Online-Befragung unter Fachkräften der Sexuellen Bildung durchgeführt.
Ziel der Studie ist es herauszufinden, welche sexualitätsbezogenen Auswirkungen der Corona-bzw. COVID-19-Pandemie die Fachkräfte der Sexuellen Bildung wahrnehmen und welche Unterstützung sie sich wünschen. Datenerhebungszeitraum: 17. 04. 20 – 18.05. 20. Teilgenommen haben 453 Personen.
Ausgewählte Ergebnisse der Online-Umfrage:
Positive und negative Auswirkungen der Corona-Pandemie auf sexuelles Verhalten und Erleben
Mit Blick auf sexuelle Gesundheit und Rechte formulieren die befragten Fachkräfte in ihren Freitext- Antworten eine Verschlechterung und Gefährdung insbesondere bei vulnerablen Gruppen, die u.a. mit folgenden Problemen während der Corona-Pandemie konfrontiert sind (alphabetisch):
- Jugendliche: in Haushalten „gefangen“ mit teilweise wenig Intimsphäre; oft heimliche Treffen mit Sexpartner*innen
- Jugendliche in der stationären Jugendhilfe: durch Ausgangsbeschränkungen teilweise aufge heizte Stimmung in den Wohngruppen, mehr Konflikte, aber auch mehr sexuelle Annäherungen
- Kinder: im häuslichen Umfeld erhöhtes Risiko der (sexualisierten) Gewalt; wenn Eltern sich nicht kümmern, sind Kinder allein gelassen und vermissen Peers und (sexual-)pädagogische Angebote
- LGBTIQ+: fehlender Zugang zu Orten und Events der Szene kann Verunsicherung und Vereinsamung begünstigen
- Mehrfachtraumatisierte Personen: Selbsthilfegruppen pausieren; Zugangsschwelle zu Beratung und Therapie erhöht; Corona-Situation kann psychische Gesundheit zusätzlich belasten
- Menschen mit Beeinträchtigungen: veränderte Routinen führen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung zu großem Stress und die Einhaltung von Hygieneregeln ist schwierig, somit auch viel Stress für die Mitarbeitenden; teilweise noch größere Einschränkung der oft ohnehin limitierten Kontakte (auch bei bestehenden Partnerschaften); keine Buchung von Massagen oder Sexualbegleitung/Sexarbeit möglich
- Männer, die Sex mit Männern haben (MSM): teilweise Verunsicherung und Verzweiflung, weil Orte für Gruppensex, die auch Orte von Gemeinschaft und Geselligkeit sind, nicht besuchbar sind; Moralisierung derjenigen, die weiterhin Sexdates machen
- Schwangere: Geburtsvorbereitungskurse fallen aus; dürfen teilweise keine Begleitperson mit in den Kreißsaal nehmen
- Sexarbeiter*innen: geraten durch Verbot ihrer Tätigkeit in Corona-Zeiten in existenzielle wirt schaftliche Not; müssen teilweise illegal arbeiten, dann ist aber „safe work“ noch weiter erschwert
- Trans*Menschen: Transitionsbehandlungen werden teilweise verschoben, was Leidensdruck erzeugt; Selbsthilfegruppen pausieren
Handlungsbedarf zum Schutz des sexuellen Wohlbefindens der Zielgruppen Sexueller Bildung in Zeiten der COVID-19 Pandemie aus Sicht der Fachkräfte
Die Fachkräfte machten in ihren Freitext-Antworten vielfältige Vorschläge dazu, wie in Zeiten der COVID-19 Pandemie das sexuelle Wohlbefinden ihrer Zielgruppen erhalten, geschützt und gefördert werden sollte. Drei ganz konkrete Maßnahmen-Bündel können als kurzfristiger Handlungsbedarf direkt abgeleitet und die die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen durch die Politik gefordert werden.
1. Aufrechterhaltung von Angeboten der sexuellen Gesundheitsversorgung auch in Pandemie-Zeiten:
Niedrigschwellige Angebote der STI-und HIV-Testung, der PrEP-/PEP-Versorgung, der Versorgung
mit Verhütungsmitteln, des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch, der Gesundheitsberatung für
Sexarbeitende usw. sollten weiterhin aufrecht erhalten werden, da die sexuelle Aktivität trotz
Kontakteinschränkungen eben auch in Pandemie-Zeiten nicht umfassend pausiert.
2. Zusätzliche Bereitstellung von Pandemie-spezifischen Angeboten:
Im Bereich der Sexuellen Bildung sind Pandemie-spezifische Angebote gefragt, die zwecks Infektionsschutz
online umgesetzt werden (so lange Face-to-Face-Veranstaltungen entfallen müssen) und
die Corona-spezifische Themen (z.B. Aufklärung über Corona, Aufklärung über den Einfluss von
Selbst-Isolation/Social Distancing auf das körperliche und seelische Wohlbefinden, spezielle
Angebote zur Prävention sexualisierter Gewalt, spezielle sexualpädagogische Angebote zur Elternarbeit
in Zeiten von Home-Schooling usw.) behandeln.
3. Verstärkung der Angebote für vulnerable Zielgruppen in Pandemie-Zeiten:
Die Bedarfe vulnerabler Zielgruppen sind zu ermitteln und in Pandemie-Zeiten durch verstärkte Unterstützung
zu decken, um zu verhindern, dass sich Ungleichheiten in der Versorgung vergrößern (z.B. Pandemie-
bedingte zusätzliche Hürden für die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen,
zusätzliche Hürden bei Prävention und Schutz vor sexualisierter Gewalt) und neue
Benachteiligungen hinzukommen (z.B. mögliche neue Moralisierung und Diskriminierung nichtmonogamer
Lebensweisen).
In eigener Sache: „Was nehmen wir (als isp) aus der Befragungsstudie „Sexualität in Zeiten der Corona-Pandemie aus Sicht von Fachkräften der sexuellen Bildung“ mit?“
Zuallererst danken wir allen, die an der Befragung so ausführlich teilgenommen haben - und Nicola Döring für die Auswertung und das Einbringen der Ergebnisse in die Fachöffentlichkeit!
Es lohnt, die vielfältigen Ergebnisse der Studie insgesamt wahrzunehmen.
Hier die fünf für uns wichtigsten Erkenntnisse, Hinweise, Statements:
1. „Das Digitale“ sollte als Vermittlungsart in den Angeboten sexueller Bildung ausgebaut und aktiv lustvoll gestaltet werden. Präsenztreffen sollen nicht ersetzt, sondern sinnvoll ergänzt werden. Live-Online-Seminare sind für manche sexualpädagogisch relevante Themen ein Gewinn und ermöglichen denjenigen Zugewinn, die Reisezeit für Präsenzfortbildungen nicht investieren können. Auch innerhalb von Weiterbildungen kann digitale Kommunikation von großem Nutzen sein – z.B. für Intervisionsgruppen oder durch Live-Online-Schalten für Gesprächssequenzen mit externen Expert*innen.
2. Die Pandemiewirkungen sind erheblich, die Pandemie ist nicht vorbei. Die Beeindruckungen sind zahlreich, auch auf Sexualitäten. Das haben wir sowohl in unserer Bildungsarbeit zu beachten - nicht nur am Rande in Seminareinstiegsrunden. Wir fühlen uns gefordert, die gesellschaftlichen Konsequenzen, gerade gegenüber den vulnerablen Gruppen wahrzunehmen (Schwangere, Trans*personen, Menschen mit Beeinträchtigungen, stationär institutionell betreute Menschen, mehrfachtraumatisierte Personen, Jugendliche u.a.m.) und möglichst aufzufangen.
3. Wir sollten gut darauf achten, dass sich nicht „im Schatten der Pandemie“ problematische Effekte verstärken – z.B. Neue Moralisierung, Retraditionalisierung des Geschlechterverhältnisses, Diskriminierung nicht-monoganer Lebensweisen, Entrechtung und Diskreditierung der Sexarbeiter*innen, Verdrängung wichtiger Themen von den ersten Plätzen der politischen Agenda (humanistischer Umgang mit Flucht und Geflüchteten, Engagement gegen die Klimakatastrophe u.a.).
4. Ob digital oder (unter Berücksichtigung der Schutzmaßnahmen) leibhaftig: Fachkräfte der Sexuellen Bildung sollten den Kontakt zu ihren Zielgruppen sichern, deren sexualitätsbezogenen Hilfe- und Beratungsbedarfe bedeutsam bleiben. Für Menschen mit sexualitätsbezogenen Problemlagen ist unsere Fachlichkeit relevant. Eine Verschlechterung des sexuellen Wohlbefindens ist kein Luxusleid.
5. In Gemeinschaft zu sein und sie stützend zu erfahren, ist ein großer Schatz. Wir fühlen uns als isp in der Pflicht, auch weiterhin für die isp-Community nach Kräften da zu sein und kollegialen Kontakt zu halten.